
Naturschutz gleich Nonsense – der Polemik erster Teil
Naturschutz gleich Nonsense.
Eine gewagte These, eine Polemik, ja eine Provokation – was für sich allein genommen noch kein Qualitätskriterium darstellt. Ist also die These selbst Nonsense, sollte man sich mit ihr überhaupt beschäftigen? Für den hauptamtlichen und den ehrenamtlichen Naturschützer wird sich die Frage in dieser Radikalität kaum stellen, rührt sie doch gewissermaßen an die Grundfesten seines Selbstverständnisses. Eine Bejahung ist aus der Sicht des Naturschutzes kaum möglich, käme einer Selbstauflösung gleich. Und aus einem anderen Blickwinkel, aus einer anderen Sicht? Was wäre, wenn man diese These von einem Standpunkt außerhalb des Naturschutzes betrachten würde? Zu welchem Ergebnis käme, sagen wir, eine wirtschaftswissenschaftliche oder eine philosophische Sichtweise? Ist eine solche Verquickung von Betrachtungsweisen überhaupt zulässig, und wenn sie das ist, ist sie dann auch sinnvoll, nicht wieder nur Nonsense?
Betrachten wir zunächst einmal die letztere Fragestellung – ist es sinnvoll, ist es Sense, verschiedene Betrachtungsweisen, unterschiedliche Blickwinkel, Methodiken, ja vielleicht sogar Betrachtungsebenen zu benutzen, um eine Fragestellung zu bearbeiten? Kann eine solche Vorgehensweise ein konsistentes Ergebnis bringen, ein Ergebnis, das dann auch aus allen und für alle eingenommenen Blickwinkeln Sinn macht, einen Beitrag in Richtung einer Lösung von möglichen Problemen leistet? Besteht überhaupt die Notwendigkeit für eine derartige Methodenmischung? Fakt ist zumindest, daß im aktuellen Naturschutzgeschehen genau eine solche Methodenmarriage stattfindet, ja das Geschehen beherrscht.
Naturschutz ist eine gesellschaftliche Aufgabenstellung – die zwar durchaus unterschiedlich gesehen und gewertet wird, zu der verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen auch höchst verschiedene Ansichten haben, die aber als solche heute allgemein akzeptiert wird. Entsprechend nimmt sich der Staat, die öffentliche Hand dieses Problemfeldes an, und das heißt in einem Rechtsstaat, daß juristische Regelungen getroffen werden. Es gibt in der Bundesrepublik eine föderale Naturschutzgesetzgebung, in der auf Bundes- und Landesebene, und nicht zuletz auch auf europäischer Ebene, Planungsinstrumente und Schutzkategorien geschaffen werden, die Rechte und Pflichten der einzelnen gesellschaftlichen Akteure festlegt, Umsetzungsinstrumentarien einführt und Sanktionsmittel in Form von Bußgeld- und Strafvorschriften bestimmt. Man versucht, sich daraus ergebende praktische Fragestellungen durch Hinweise von staatlicher Seite, durch ministerielle Grundsätze, Leitfäden und Richtlinien zu beantworten. Und wo dies nicht eindeutig und unumstritten gelingt, wo Fragen offen bleiben, arbeitet die Rechtsprechung diese ab, werden Urteile nach dem Weg durch alle Instanzen zu Referenzurteilen, zu rechtlich gültigen und damit gesellschaftlich legitimierten Interpretationen. Streitfragen erhalten konkrete und systemkonforme Problemlösungen.
Dies alles stellt aber im Grunde noch keine methodische Verquickung dar, zumindest nicht die Art, die hier betrachtet werden soll. Die juristische Herangehensweise bildet im hier geschilderten Rahmen eher einen Teil der Methodik, eine Art Werkzeugkasten, sie stellt ein Instrumentarium dar, für Umsetzungen und zur Problemlösung, sie dient der Umsetzung von Vorgaben, die die Gesellschaft zum Thema Naturschutz macht. Wie aber kommen diese Vorgaben nun zustande? Definiert sich der Naturschutz selbst, immanent, sozusagen rein naturschutzfachlich, wie sehen seine Paradigmen aus und woher kommen sie?
Das Paradigmengebäude des Naturschutzes
Woher kommen also nun die spezifischen Paradigmen des Naturschutzes, wie setzt sich sein aktuelles Paradigmengebäude zusammen? Wenn man das Paradigma des akademischen und damit auch in der Folge, vielleicht etwas zeitversetzt, des amtlichen, öffentlichen, des behördengestützten Naturschutzes im beginnenden 21. Jahrhundert unter einem Begriff zusammenfassen möchte, so bietet sich die Biodiversität an. Anzustreben, zu erhalten und ggf. zu entwickeln ist eine möglichst große Vielfalt der Natur, wobei wir hier Natur als belebte Natur verstehen müssen, als Vielfalt von Lebewesen oder zumindest von durch Lebewesen dominierten Einheiten. Und das möglichst auf allen Ebenen, beginnend mit genetischer Vielfalt über Artenvielfalt bis zur Vielfalt von Ökosystemen.
Allerdings hat diese Theorie der Vielfalt in der Praxis, in der konkreten Alltagswirklichkeit durchaus einige Modifikationen erfahren, weist historische und gesellschaftliche Einschränkungen auf. Angestrebt wird nicht Biodiversität an sich, sondern „heimische“ Biodiversität. Dieses Adjektiv wiederum würde einen erneuten, langen Exkurs rechtfertigen, auf den wir im Sinne einer gewissen Stringenz unserer Argumentation weitgehend verzichten wollen. Hier also nur soviel: Es geht dem akademisch-öffentlichen Naturschutz um einen bestimmten, historisch verankerten Zustand der belebten Umwelt (und ich sage hier bewußt nicht der Natur), der sozusagen als Referenzzustand gilt. Es geht um eine bäuerliche Kulturlandschaft, wie sie sich in Mitteleurope so ungefähr im 18. und 19. Jahrhundert ausgebildet hat. Der Zustand der vom Menschen noch nicht oder nicht wesentlich beeinflußten Naturlandschaft Mitteleuropas, mit dominierenden Wäldern, weitgehend ohne Offenland, ohne Felder, Weiden und Streuobstwiesen, wird mit dem Hinweis auf die schiere Artenzahl unter dem Aspekt der Biodiversität als artenärmer und damit als minderwertig angesehen, was ja durchaus eine gewisse paradigmeneigene Logik birgt. Allerdings werden, und hier holpert die Logik ein wenig, die aktuellsten Erweiterungen des Artenspektrums (und damit eigentlich auch der Biodiversität) unter dem deutlich negativ belegten Begriff der Neophyten bzw. der Neozoen als „biologische Invasion“ abgelehnt. Die vermutlich unter den Römern eingeführte, jedenfalls aber nicht ursprünglich in Mitteleuropa heimische Roßkastanie gilt zumindest in Bayern als unverzichtbarer Bestandteil der schützenswerten Kulturlandschaft, die sich aktuell sehr erfolgreich ausbreitende Robinie als bekämpfenswerter oder jedenfalls nicht erwünschter Neophyt.
Dieses Paradigma steht nun aber im Naturschutz durchaus nicht allein da; von juristischer Seite, und hier besonders auf der Ebene der EU-Gesetzgebung und der damit verbundenen EU-weiten und darauf aufbauenden nationalen Rechtsprechung, wird eine juristische Betrachtungsweise, ein juristisches Paradigma auf eine Weise eingebracht, die die weiter oben skizzierte rein dienende Funktion jedenfalls deutlich überschreitet.
Betrachtet man z.B. das durchaus zu einer gewissen Berühmtheit gelangte sog. Freiberg-Urteil [1] des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) etwas näher, fällt einem doch eine gewisse juristische Eigendynamik auf. In dem Urteil hat das BVerwG auf eine Klage des BUND hin einen Planfeststellungsbeschluß der Landesdirektion Chemnitz für den Bau der Ortsumgehung Chemnitz als rechtwidrig erklärt. Dies wurde in Naturschutzkreisen gefeiert und von seiten der sozusagen ausführenden Organe, der Vorhabensträger und Genehmigungsbehörden als Anfang vom Ende jeder zivilisatorischen Aktivität beweint. Allerdings wurde der der Planfeststellungsbeschluß keineswegs aufgehoben, sondern lediglich als (im gegenwärtigen Zustand) rechtswidrig und damit nicht vollziehbar eingestuft. Das Gericht weist ausdrücklich auf „Heilungsmöglichkeiten in einem ergänzenden Verfahren“ hin [2].
Die juristische und inhaltliche Wertung des Urteils soll hier nun aber nicht weiter verfolgt werden, dies wurde in der einschlägigen Literatur zur Genüge diskutiert. Uns interessiert vielmehr die paradigmatische Struktur des Urteils; unter welchen Prämissen, mit welchen Vorgaben arbeitet es? Die Antwort ist freilich wenig überraschend, aber für unsere Betrachtung doch aufschlußreich: das Gericht urteilt aus überwiegend formaljuristischen, rechtsimmanenten Gründen. So werden z.B. eine erhebliche, wenn nicht sogar die überwiegende Anzahl von Kritikpunkten des BUND präkludiert, d.h. gar nicht erst behandelt, weil sie aus formalen und verfahrensrechtlichen Gründen auszuschließen sind. Wird z.B. ein Argument erst in der Klageschrift gebracht, und nicht schon in der Anhörung im Zuge der Beteiligung der Träger öffentlicher Belange am Genehmigungsverfahren, muß und darf es nicht behandelt werden. Von den verbliebenen, zulässigen Einwendungen des Klägers wird ein Teil zwar auch inhaltlich gewertet, so etwa bei den vorgesehnenen Maßnahmen zum Fledermausschutz, die als fachlich ungeeignet und unzureichend eingestuft werden. Der zweite große Argumentationsschiene des BUND, dem mangelnden Schutz der Zauneidechse, wird aber zwar stattgegeben, jedoch nicht ohne anschließende ausführliche Hinweise, daß die Planfeststellung nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatschG unzulässig ist, auch eine Privilegierung gem. § 44 Abs. 5 Satz 2 und 3 BNatschG nicht möglich ist, die (bisher noch nicht durchgeführte) Erteilung einer Ausnahme nach § 45 Abs. 7 BNatschG aus Sicht des Gerichtes aber eine sehr gute Aussicht auf Erfolg (also auf Genehmigung) bietet. Beiläufig läßt sich das Gericht auch die geistige Pirouette nicht entgehen, darauf hinzuweisen, daß das zum Schutz der Zauneidechsen vorgesehene Absammeln und Umsetzen der Tiere für sich selbst unter das Fangverbot nach § 42 Abs. 1 Nr. 1 BNatschG 2007 (bzw, § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatschG in der aktuellen Fassung) fallen und entsprechende Ausnahmegenehmigungen nötig machen könnte, was dringend durch den Euröpäischen Gerichtshof zu klären wäre.
Um es zusammenzufassen, aus der Sicht eines Nichtjuristen verheddert sich das Naturschutzrecht auf eine Weise in rechtspositivistischer Scholastik, die aus Sicht des Naturschutzes zumindest mit einem gewissen Befremden betrachtet und als nicht unbedingt der Sache dienlich angesehen werden muß. Wobei selbstverständlich juristisch völlig korrekt argumentiert wird; das juristische Paradigma eines auf alle Problemlagen anwendbaren und diese lösenden, in sich auf allen im Gesetz [3] festgelegten Ebenen schlüssigen logischen Konstruktes tritt zu unserem Paradigmengebäude hinzu. Und nimmt für sich ein gewisses Entscheidungsmonopol in Anspruch.
Zu unsereem hoffentlich hinreichenden Versuch einer Darstellung des aktuellen Paradigmengebäudes des Naturschutzes fehlt nun noch eine letzte Komponente: das Paradigma des ehrenamtlichen, nicht öffentlichen Naturschutzes, der in Deutschland ja eine nicht unerhebliche Rolle übernommen hat. Und hier treffen wir eine Besonderheit im Vergleich zu den beiden bisher betrachteten Paradigmengruppen an; das Paradigma des ehrenamtlichen Naturschutzes gibt es so nicht. Zumindest nicht auf derselben Ebene wie die akademischen naturschutzfachlichen und die juristischen Paradigmen. Zwar hat auch der ehrenamtliche Naturschutz große Akteure, den BUND etwa oder den Nabu, die sich offiziell sehr wohl dem akademischen Paradigma der Biodiversität verpflichtet fühlen, aber der ehrenamtliche Naturschutz beruht eben auf freiwilligem Engagement von Leuten, die sich für das Thema interessieren, und damit auch zwangsläufig eine eigene, oft sehr eigene Meinung dazu haben. Da es sich um Freiwillige handelt, fehlt dem ehrenamtlichen Naturschutz in gewissem Sinne das Durchsetzungsvermögen, um ein bestimmtes Paradigma verbindlich für alle seine Mitglieder einzuführen. Der ehrenamtliche Naturschutz bringt einen bunten Strauß von Einzelparadigmen einer tieferen Ebene in das Paradigmengebäude mit ein, und damit auch ein etwas zufälliges, anarchisches Element. Heuschreckenfreunde freuen sich über Skipisten, da deren Erosionsschäden im Sommer prächtige Heuschreckenhabitate abgeben, Vogelschützer bejubeln das vermehrte Auftreten von Fischreihern und Kormoranen, die die Fischereiverbände erbittert bekämpfen.
Als ausschmückende Erläuterung mag eine kleine Episode dienen, die der Verfasser 2011 erlebt hat. Im Unterlauf der Iller bei Vöhringen wurden zur der Zeit durch die Wasserwirtschaft umfangreiche Renaturierungsmaßnahmen durchgeführt. Unter anderem wurde der Flußlauf, bzw. der potentielle Flußlauf, der Bereich, in dem sich der Fluß sozusagen frei bewegen kann, massiv verbreitert, wobei großflächige Rohbodenstandorte aus dem anstehenden, mehr oder weniger reinem Kiessubstrat entstanden, nicht unähnlich den Standorten in einer natürlichen Aue nach einem starken Hochwasserereignis. Man kam überein, diese der freien Sukzession zu überlassen und die Entwicklung vegetationskundlich zu dokumentieren, womit ich ab 2006 beauftragt wurde. Nach einer kurzen Anlaufperiode entwickelte sich innerhalb weniger Jahre eine außergewöhnlich artenreiche Vegetation, in der sich auch eine ganze Reihe von z.T. durchaus exotischen Neophyten etablieren konnte. Entsprechend überraschte ein regelmäßiges und recht üppiges Auftreten des Sommerflieders, Buddleja davidii, nicht wirklich, da diese Pflanze ja für ein gelegentliches Auswildern durchaus bekannt ist. 2011 traf ich allerdings bei einer Vegetationsaufnahme eine ehrenamtlichen Natursschützer, der mir voller Stolz „seine“ Sommerfliederbestände zeigte, die er in jahrelanger Arbeit als Schmetterlingsnährpflanzen auf diesem kargen Standort etablieren konnte.
Wie man sieht, wirkt hier ein zwar anarchisches, aber durchaus erfrischendes Element, das im vorliegenden Fall sogar als ein gewisses Korrektiv des oben skizzierten eingeschränkten, „heimischen“ Biodiversitätsparadigmas des akademischen Naturschutzes gesehen werden kann.
Wenn wir nocheinmal zusammenfassen wollen, so kann man im gegenwärtigen Paradigmengebäude des Naturschutzes drei Komponenten unterscheiden, von denen zwei, und dies als Antwort auf unsere Ausgangsfrage, keineswegs ausschließlich naturschutzfachlichen Charakter haben. Per definitionem rein naturschutzfachlich ist das akademische Paradigma der Biodiversität; hinzu tritt eine stark rechtspositivistisch geprägte juristische Komponente, und schließlich ein Sammelsurium unterschiedlichster Schwerpunktsetzungen der ehrenamtlichen Akteure.
Nun stellt sich die Frage, ob diese Komponenten tatsächlich so inhomogen sind, wie sie sich auf den ersten Blick darstellen – schließlich bilden sie faktisch ein tatsächlich existierendes Paradigmengebäude, was, um im Bild zu bleiben, eine gewisse Stabilität und ein Zusammenpassen der Komponenten beinhalten muß. Bei völliger Inhomogenität würde sich gar kein Zusammenspiel, kein Komplex herausbilden, käme nie ein, wenn auch zusammengesetztes, Gesamtparadigma zu Stande.
Worin liegt nun diese Homogenität oder vielleicht eher Kompatibilität, wo sind die Anknüpfungspunkte unserer oben skizzierten, ja aus durchaus unterschiedlichen Richtungen zusammentreffenden Einzelparadigmen? Die Antwort ist nicht besonders naheliegend, aber überraschend einfach: Alle hier herausgearbeiteten Paradigmen arbeiten strukturell, nicht prozeßorientiert. Die Welt, bzw. in unserem Fall konkreter die Natur, wird als Struktur angesehen, als statisch. Ein bestimmter Zustand wird angestrebt, geschützt, durchgesetzt und eigentlich, wenn man ehrlich ist, nur dahingehend entwickelt, daß sich seine Eigenschaften einer wie auch immer definierten, nach Erreichung möglichst dauerhaft zu sichernden Ausprägung annähern.
Ein erwünschter Zustand, ein status essendi wird festgelegt, eine bestimmte Artenzusammensetzung, eine Palette von Lebensräumen gilt als anzustrebende, zu erhaltende und zu sichernde Optimalausstattung, als die gewünschte Biodiversität. Wenn zur Artenausstattung eines Gebietes nicht vorgesehene Arten hinzutreten, wenn in Mecklenburg entlaufene Nandus freie, überlebensfähige Populationen bilden, so sollte dieser quasi Ausschlag nach oben in der Biodiversität nach Möglichkeit korrigiert werden. Wenn gar neue Arten, Neophyten, andere Arten verdrängen, sozusagen die Biodiversität modifizieren, auch ohne im Saldo eine geringere Artenzahl zu bewirken, so wird es Zeit für konzertierte Bekämpfungsaktionen.
Diese Sichtweise ist auch die entscheidende Voraussetzung dafür, daß ein Naturschutzrecht in der gegenwärtigen Stringenz entwickelt werden konnte; Gesetze definieren, fördern und verteidigen ein Ideal, stabilisieren einen definierten Normalzustand und sanktionieren Abweichungen von ihm. Was bei sozusagen immanenten menschlichen Themengebieten durchaus Sinn macht; man braucht ein relativ starres System von Verkehrsregeln, an das sich alle zu halten haben, um einen seinen Aufgaben gerecht werdenden Verkehr überhaupt zu ermöglichen. In dem Augenblick aber, wo man sozusagen das eigene, abgeschlossenen Terrain, das manmade system verläßt, wird die Sache etwas schwieriger. Man will eine fixe Natur, deren ausführlich und klar definierter Optimalzustand angestrebt wird und sowohl in diesem Anstreben also auch bei Erreichung des Wunschzustandes juristisch unterstützt und durch Gesetze fixiert werden kann. Natur soll in Lehrmeinung und Recht, und, um auch unsren dritten Paradigmenkomplex mit einzubeziehen, in einzelne dezidierte Wunschzustände gefaßt werden und sich gefälligst an diese halten. Tritt ein Verfall des Gebäudes auf, geht etwas aus der Sicht des Idealzustandes kaputt, muß das Naturschutzrecht den Naturschützern die Mittel an die Hand geben, die entsprechenden Korrekturen und Reparaturen durchzuführen.
An dieses Paradigma einer statischen Struktur haben sich Wissenschaft, Recht, staatliche und ehrenamtliche Naturschützer und – die Natur zu halten. Und hier betreten wir den Bereich des Nonsense. Betrachten wir einige Beispiele dazu.
FFH-Wünsche – die Mertinger Höll
Etwa 6 km südlich von Donauwörth in Bayern, im Donauried, befindet sich die Mertinger Höll, ein zusammenhängender Niedermoorkomplex von rund 144 ha. Das Areal ist Naturschutzgebiet und seit 2002 namensgebender Teil des FFH-Gebietes 7330-301 „Mertinger Hölle und umgebende Feuchtgebiete“. Es stellt eine Art Relikt in der umgebenden stark meliorierten und intensiv landwirtschaftlich genutzten Fläche des Donauriedes dar; aus nicht mehr wirklich nachvollziehbaren Gründen wurde es zwar immer irgendwie, aber nie richtig in die Nutzung genommen. Um die Jahrhundertwende des vorletzen Jahrhunderts wurde ein fast industriell zu nennender Torfabbau betrieben, parallel dazu und diese Nutzung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überdauernd wurde das Areal als Allmendefläche zur Streuentnahme genutzt und geriet, nach dem diese Nutzungsform in der zunehmend moderner und intensiver werdenden Landwirtschaft keine richtige Verwendung mehr fand, zunehmend in den Fokus des amtlichen und ehrenamtlichen Naturschutzes. Man probierte zahlreiche Pflegemaßnahmen und –konzepte aus und ließ sie wieder fallen, so daß sich bis heute eine pflanzensoziologisch schwer einzuordnede Mischfläche aus Faulbaumgebüschen und Schilf- bzw. Großseggen-Röhrichten mit einzelnen Gräben und freien Wasserflächen herausgebildet hat. Nicht natürlich, aber naturschutzfachlich interessant, insbesondere was den Vogelschutz angeht.
Als nun Bayern mit der Nennung von FFH-Flächen etwas ins Hintertreffen kam, Deutschland 1997 vom EuGH wegen nicht erfolgter Umsetzung der FFH-Richtlinie in Deutsches Recht verurteilt wurde und Strafandrohungen seitens der EU im Raum standen, mußte schnellstens eine ausreichend umfangreiche Vorschlagsliste für FFH-Gebiet her; die bisherige Vorschlagsliste Bayerns vom Frühjahr 1996 lag mit 1,6% der Landesfläche weit hinter den Vorstellungen Brüssels zurück. In dieser Phase wurde auch die Mertinger Höll sozusagen in die Schlacht geworfen, um eine ausreichende Flächenkulisse melden zu können.
Da die Mertinger Höll bereits lange Naturschutzgebiet war und auch vorher schon im Interesse von Naturschützern stand, konnte man auf eine umfangreiche Datenbasis zurückgreifen, die in der Eile nicht wirklich verifiziert wurde. Eine erste ausführliche vegetationskundliche und faunistisch-ökologische Untersuchung des Areals von Fischer stammt immerhin aus dem Jahr 1936. Unter anderem wird dort der Sumpf-Glanzstendel, Liparis loeselii genannt, eine recht unscheinbare, aber auch damals schon seltene Orchidee, die es in modernen Zeiten bis zur FFH-Art des Anhangs II der FFH-Richtlinie geschafft hat. Wie passend. Die Art wurde auch in so ziemlich allen nachfolgenden vegetationskundlichen Arbeiten zur Mertinger Höll erwähnt, jedoch auffälligerweise nie mit Standortnachweis, sondern immer nur in den zusammmenfassenden Florenlisten.[4]
Nun handelt es sich bei Liparis loeselii mit 6 bis 20 cm Blütenstandhöhe um eine eher kleine Orchideenart, die auf braunmoosreichen Offenstandorten mit geringem Konkurrenzdruck in kalkhaltigen, mesotrophen Flach- und Übergangsmooren vorkommt. Die Höll ist ein Niedermoor, das seinen Moorcharakter durch hohen Grundwasserstand bekommt und durch das durchströmende Grundwasser eine durchaus gute bis ausgezeichnete Nährstoffversogung aufweist, die durch aktuelle Torfmineralisation und Nährstoffeinträge aus den umliegenden landwirtschaftlichen Flächen noch verstärkt wird. Entsprechend wüchsig ist die Vegetation; im Sommer besteht der Offenlandanteil der Höll aus einem mindestens 1,5 bis 2 m hohen, dichten Bestand an Großseggen und Schilf. Ich habe hier im Zuge der Umsetzung des Gesamtökologischen Gutachtens Donauried umfangreiche vegetationskundliche Untersuchungen durchgeführt [5] und dann auch eine Voruntersuchung zum FFH-Managementplan erstellt; [6] Liparis wurde dabei, wie bei dem wüchsigen Standort auch nicht anders zu erwarten, nie nachgewiesen. Meiner Ansicht nach kann die Pflanze dort gar nicht vorkommen und ist auch nie vorgekommen. Die sozusagen Entdeckung 1936 dürfte auf eine Fehlbestimmung zurückzuführen sein; im Gebiet kommt Epipactis helleborine vor, der Breitblättrige Sitter, eine Orchideenart, die im abgeblühten und einziehenden Zustand durchaus mit Liparis verwechselt werden kann. In den folgenden Arbeiten wollte man das Vorkommen des seltenen Glanzstendels nicht anzweifeln und hat die Art sozusagen mitgeschleppt, bis sie es in die Erhaltungsziele des FFH-Gebietes schaffte und nun amtlich zu fördern ist, mit allen naturschutzfachlichen und europarechtlichen Konsequenzen:
„Erhaltungsziel 5: Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Population des Glanzstendels. Erhaltung der kalkreichen Niedermoore mit intaktem Wasser- und oligotrophem Nährstoffhaushalt, sowie der extensiv genutzten und gepflegten Bereiche mit den sekundären Beständen.“ [7]
Aller Wahrscheinlichkeit nach ohne dort jemals vorgekommen zu sein (im übrigen genauso wenig wie ein oligotropher Nährstoffhaushalt).
Nun mag man einwenden, daß es sich hier zwar durchaus um einen Nonsense handelt, daß Fehler aber überall passieren und dies ein Beispiel für eine weniger gelungene Anstrengung im Bereich des Naturschutzes darstellt, aber eben nur in Form eines sozusagen singulären Fehltritts. Grundsätzlich sei dies zugestanden; dennoch beinhaltet unser erstes Besipiel aber auch eine systemische Komponente, die über diesen Einzelfall hinausweist. Systemisch ist das ungeheure Beharrungsvermögen eines derartigen Fehlers. Der Naturschutzes ist darauf ausgelegt, eine einmal als wertvoll und damit schützenswert festgelegte Struktur eben zu schützen, also gegen aktuelle, potentiell gefährdende Entwicklungen zu verteidigen. Und zwar gelegentlich auch, wie in unserem Beispiel, wenn sich herausstellt, daß die Struktur real gar nicht existiert und wohl auch nie existiert hat. Durchaus verstärkend tritt hier das EU-Recht auf den Plan; wäre es schon recht kompliziert, eine Fehleintragung in einem deutschen Naturschutzgebiet zu korrigieren, so wird es wohl niemand angehen, dasselbe in einem nach EU-Recht gesicherten Gebiet zu versuchen. Was einmal in die Brüsseler Gesetzbücher eingetragen ist, ist eingetragen. Und rechtsgültig zu schützen. Auch wenn es gar nicht existiert – also doch zumindest eine systemische Komponente von Nonsense.
störungsbedürftiger Schützling – der Nachtkerzenschwärmer
Ebenfalls Schwierigkeiten mit der Dauerhaftigkeit europarechtlicher Listen hat unser zweites Beispiel, wenn auch auf eine andere Weise. Als Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts die FFH-Richtlinie Gestalt annahm, tauchte aus den zigarrenrauchgeschwängerten Hinterzimmern der Berner Konvention Proserpinus proserpina, der Nachtkerzenschwärmer auf und schaffte es in den Anhang IV, die „streng zu schützenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse“. Es handelt sich dabei um eine Schmetterlingsart, die in Deutschland durchaus nicht selten oder besonders gefährdet ist, allerdings in geringen Individuenzahlen und außerordentlich unstet vorkommt. Dies hängt damit zusammen, daß die Raupen der Art oligophag an Wirtspflanzen der Familie Onagraceae, der Nachtkerzengewächse gebunden ist, mit Schwerpunkt auf verschiedene Arten von Epilobium, dem Weidenröschen. Diese Wirtspflanzen wiederum sind zum weitüberwiegenden Teil sog. Störstellenpioniere, treten also als Erstbesiedler oder zumindest in frühen Sukzessionsphasen auf unterschiedlichsten Rohbodenstandorten auf, also an Flußufern und auf Schlagfluren, aber auch auf unterschiedlichsten Sekundärstandorten wie Bahndämmen, verwilderten Gärten, Lagerplätzen, aufgelassenen Abbaustellen u.ä.. Und verschwinden auch wieder, wenn die Sukzession entsprechender Standorte fortschreitet und sich konkurrenzstärkere krautige Arten oder Gehölze etablieren. Proserpinus folgt nun gewissermaßen den Pflanzen zu entsprechend geeigneten Standorten und weist daher eine große Mobilität und ein gutes Ausbreitungsvermögen auf.[8]
Die Wahl dieser Art als Anhangart löst in Fachkreisen nachvollziehbarerweise ein gewisses Befremden aus,[9] aber Gesetz ist Gesetz. Eine Anhang-IV- Art unterliegt nun gemäß Art. 11 und 17 der FFH-Richtlinie einer strengen Monitoringpflicht, um ihren Erhaltrungszustand zu dokumentieren und ggf. entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können. Hier nun zeigt sich Proserpinus durchaus unkooperativ. Die Imagines fliegen nur wenige Wochen im Jahr, mit Schwerpunkt im Mai und Juni, und zwar hauptsächlich in der Dämmerung. Sie sind also visuell nur schlecht zu erfassen und sprechen auch kaum auf Lichtfallen an, da diese ja bekanntlich Dunkelheit benötigen, also nur bei nachtaktiven Arten erfolgreich sind. Da die Falter sehr unstet sind und weite Strecken zurücklegen, sind vereinzelte Nachweise wenig ausagekräftig im Hinblick auf eine genaue Verbreitungskartierung. Die Raupen wiederum sind gut getarnt und leben relativ versteckt. In Fachkreisen wird über eine Erfassung über den Nachweis von Kotspuren diskutiert, was aber auf Grund von Verwechslungsmöglichkeiten mit verwandten Arten auch nicht wirklich überzeugt.[10]
Schwierigkeiten beim Monitoring sind bedauerlich, aber für sich genommen ohne allzu schwere Konsequenzen. Problematischer wird die Sache aus der Sicht des Artenschutzes; §44 Abs. 1 Nr. 1 BNatschG verbietet die Tötung oder Verletzung von Individuen einer entsprechend geschützten Art einschließlich einer Zerstörung oder Beschädigung ihrer Entwicklungsformen, §44 Abs. 1 Nr. 3 die Beschädigung und Zerstörung von Fortpflanzungs- und Ruhestätten. Da nun so gut wie alle Bau- und sonstigen flächenwirksamen Vorhaben einer speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung unterzogen werden, um entsprechende Verbotstatbestände gem, § 44 auszuschließen, müßte man selbstverständlich auch wissen, ob Proserpinus in einem Vorhabensumgriff überhaupt vorkommt und damit gefährdet ist. Aus den oben genannten Gründen wird in der Praxis meist auf eine entsprechende Untersuchung verzichtet, was aber schlicht rechtswidrig ist. Der im Grunde einzig rechtssicher Weg wäre eine worst-case-Annahme, d.h. man geht bei Vorkommen entsprechender Wirtspflanzen auch von einem Vorkommen von Proserpinus aus, unabhängig vom tatsächlichen Vorkommen der Art.
Wie bereits erwähnt, kommen die Wirtspflanzen auf Störstellen vor, wie sie bei zahlreichen Vorhaben in der Bauphase auftreten, etwa im Bereich von Erd- oder sonstigen Materiallagerstätten oder bei der Baustelleneinrichtung. Und mit Abschluß des Bauvorhabens, mit seiner Fertigstellung, folgerichtig auch wieder verschwinden. Oder, aus einem anderen blickwinkel, zerstört werden. Um dem Artenschutzrecht zu genügen, müßten also, da die Fortpflanzungs- und Ruhestätten ja nicht erhalten werden können, ohne entsprechende Bauvorhaben sozusagen in der Bauphase einzufrieren, CEF-Maßnahmen (continuous ecological functionality-measures) ergriffen werden, Maßnahmen also, die eine konstante und ununterbrochene ökologische Funktion sicherstellen. Es müßten an anderer Stelle dauerhaft entsprechende Pionierstandorte als Standort für Epilobiumarten und damit als Lebensraum für Proserpina geschaffen werden. Da sich nun aber Pioniergesellschaften durch eine kurze Lebensdauer auszeichnen und im Zuge natürlicher Sukzessionsvorgänge relativ schnell wieder verschwinden, von anderen Pflanzengesellschaften abgelöst werden, wären entsprechende Standorte relativ regelmäßig wieder in ein Pionierstadium zurückzuführen, und das heißt, man müßte die Pflanzendecke zerstören, und damit möglicherweise auch einzelne noch verbliebene Exemplare von Proserepina. Womit wir wieder am Anfang unserer Problematik angelangt wären. Nonsense.
Man könnte aber auch Proserpina sozusagen zutrauen, daß die Art ihre über Jahrtausende entwickelte Lebens- und Überlebensstreategie nach Aufstellung entsprechender EU-Richtlinien nicht verloren hat und sich selber behilft, nach Erlöschen des einen Standortes sich einfach einen neuen geeigneten Lebensraum sucht. Der Monitoringpflicht wird sich die Art dabei allerdings schnöde entziehen. Mit allen rechtlichen Konsequenzen.
naturschutzfachliches Reinactment – die extensive Grünlandnutzung
Heutzutage erfreut sich das sog. Reenactment als Freizeitaktivität zunehmender Beliebtheit; wie uns Wikipedia verrät, versteht man darunter „die Neuinszenierung konkreter geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Weise“. Zahllose Mittelaltermärkte, Ritterfestspiele, Schlachtennachstellungen bereichern bevorzugt die warme Jahreszeit; dem Reiz solcher Aktivitäten kann sich augenscheinlich auch der Naturschutz nicht entziehen. Und zwar durchaus auch auf höchster (EU-) Ebene.
Betrachtet man nämlich die nach Anhang I der FFH-Richtline geschützten Lebensräume, so finden sich darin z.B. LRT 6510 Magere Flachland-Mähwiesen und 6520 Berg-Mähwiesen, Lebensräume also, die, wie der Name schon sagt, natürlich im Sinne von „ohne menschlichen Einfluß“ gar nicht vorkämen, sondern erst durch menschliche Nutzung entstanden sind. Und zwar durch eine Nutzungsform, die in der modernen Landwirtschaft einen ähnlichen Platz einnimmt wie Ritterturniere in der Sportschau, um den Bogen zu schlagen.
Man muß nun fairerweise zugestehen, daß derartige Lebensräume nicht nur auf EU-Ebene das Interesse des Naturschutzes genießen, sondern diesbezüglich auf eine rechtlich und zeitlich weit darüber hinaus bzw. dahinter zurück gehende Anziehungskraft blicken können.
Die Ursprünge des Grünlandschutzes gehen bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück;[11] in den von Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und sozialen Spannungen geprägten Großstädten wurde die zu dieser Zeit noch rückständige, dafür aber kleinteilige und, für den großstädtischen Betrachter, idyllische bäuerliche Kulturlandschaft als Gegengewicht und bald auch Gegenentwurf zur eigenen, technisch-indstruiell geprägten Lebenswelt gesehen. Man hatte sich von der Natur, ihren Beschränkungen und Restriktionen weitgehend emanzipiert, bezahlte dies aber unter anderem mit einem Gefühl tiefer Naturentfremdung. Auf dem Land gab es ein Gegenmittel, das man sich mittels eines Ausfluges bei schönem Wetter problemlos verabreichen konnte.
Als sich nun der technische Fortschritt auch auf´s Land begab und man in großem Stil mittels Flurbereinugungsmaßnahmen, Infrastrukturverbesserungen und Melioration den wirtschaftlichen und sozialen Rückstand des ländlichen Raumes anging, drohte diese Therapiemöglichkeit zu verschwinden. Folgerichtig bemühte man sich um den Schutz der Idylle. Um 1900 kam hierfür der Begriff des Naturschutzes auf; man wollte das erhalten, was man als Gegengewicht der modernen Industrialisierung ansah. Aus dieser Antithetik erklärt sich auch der Begriff „Natur“ in „Naturschutz“ – was wäre ein besseres Gegenteil zur Technik als eben die Natur? Inhaltlich wäre freilich ein Begriff wie „Heimatschutz“ oder „Schutz der bäuerlichen Kulturlandschaft“ treffender gewesen. Jedenfalls waren blumenreiche Mähwiesen ein essentieller Bestandteil des zu schützenden Gesamtkomplexes, und zwar in erster Linie wegen ihrer nicht zu bestreitenden ästhetischen Qualitäten. Die Blumen im Grünland standen und stehen in deutlicher Opposition zu einer technisch geprägten Landwirtschaft, und sind damit Natur.
Am Rande sei bemerkt, daß in dieser begrifflichen Unexaktheit durchaus ein Körnchen Wahrheit steckt; schützen muß sich der Mensch vor der eigenen Technik, er muß seine Aktivitäten wieder mehr an nicht technisch beeinflußten Ökosystemen, eben an der Natur ausrichten, wenn er mittelfristig eine für ihn lebenswerte Umwelt haben möchte. Die aktuellen Entwicklungen in Zusammenhang mit der Klimaerwärmung zeigen, daß der Mensch in ureigenstem interesse einen bestimmten Zustand der Natur schützen sollte, wenn er langfristig überleben möchte. Der eigentliche Grund eines solchen Naturschutzes ist freilich der Menschenschutz – dazu später mehr.
Wie aber kam es nun zur Entstehung von blühenden Wiesen auf Standorten, die eigentlich waldfähig und damit ursprünglich sicher auch von Wald bestanden waren?[12] Der Mensch begann in Mitteleuropa zu Beginn des Neolithikums, also hier etwa 6.500 Jahre v. Chr., mit einer Landnutzungsform, die sich vom bisherigen Jäger- und Sammlertum deutlich unterschied; er wurde seßhaft und veränderte seine Umgebung so, daß er (mehr oder weniger) dauerhaft an einem Ort bleiben und sozusagen von diesem leben konnte. Die Landwirtschaft wurde erfunden, zunächst wohl in Form von Ackerbau, dann auch und im Laufe von mehreren Jahrhunderten mit zunehmender Bedeutung die Viehhaltung. Gegen Ende des Neolithikums, um etwa 2.000 v. Chr., war, eingebettet in die noch weitestgehend unberührten Wälder, eine bäuerliche Kulturlandschaft entstanden. Im Zentrum der einzelnen Kulturlandschaftsinseln befanden sich die Siedlungen, die eigentlichen Hofstellen, mit arbeitsintesiven Gemüsekulturen und teilweise auch schon mit Stallungen; diese waren von den schon mit deutlich weniger Aufwand zu bewirtschaftenden Feldern umgeben, die aber dennoch innerhalb eines Tages erreich- und bearbeitbar sein mußten. Man mußte also in der Früh hin und Abends zurückgehen können und dabei noch ausreichend Zeit zur eigentlichen Feldarbeit haben, was die räumlioche Ausdehnung der Ackerbauflächen deutlich limitierte. Außerhalb dieser für Feldarbeit geeigneten Zone konnte man aber die angrenzenden Wälder noch auf eine weniger aufwändige Weise nutzen, man zog gelegentlich mehrere Tage zur Holzgewinnung oder zur Entnahme anderer Stoffe los, man konnte die alten Jäger- und Sammlernutzungen ein wenig aufrecht erhalten, und man konnte das Vieh zur Weide in die Wälder treiben. Später wurden auch Laub und krautige Vegetation als Winterfutter für das Vieh, als Stalleinstreu und als Düngung für Felder und Gärten entnommen. So entstand zwischen den eigentlichen bäuerlichen Kulturflächen und den Naturflächen der Wälder eine Zone sozusagen gelegentlicher Ausbeutung, die vor allem für eine Lebensform recht ungünstig wurde: für Bäume und Strächer. Es entstanden extensive Wiesen.
Man könnte also sagen, daß die heutigen Objekte naturschutzfachlicher Begierde, die blütenreichen, extensiven Wiesen, aus einem zwar aus Gründen der beschränkten technischen Möglichkeiten nachlässigen, gelegentlichen, aber insgesamt doch regelmäßigen und dabei völlig rücksichtslosen Raubbau an den natürlichen Wäldern hervorgegangen sind. Die Nutzung konnte wegen der schieren räumlichen Distanz zu den Hofstellen nicht so intensiv und rigoros sein, daß man auch die Krautschicht nach seinen Vorstellungen umgestaltete, wie auf Äckern und in Gärten, aber Gehölze konnten nicht überleben. Dabei ist auch nicht uninteressant, daß bei Aufgabe dieser Raubbaus in Süd- und Mitteleuropa so gut wie immer die Gehölze wieder das Regiment übernahmen (und übernehmen), wenn auch oft in Degradationsformen wie etwa dem Buschland der Maccia oder lichten Eichen- oder Kiefernwäldern.
Diese Nutzungsform wurde die Jahrhunderte hindurch im Großen und Ganzen beibehalten. Die Zahl der Siedlungskerne nahm zu, entsprechend auch der Anteil von Gärten, Acker und umgebenden Grünland an der Landesfläche, entsprechend nahmen folgerichtig die Wälder flächenmäßig ab, die Stallhaltung und damit auch die Futtergewinnung aus Grünland (und auch aus dem Wald) etablierte sich, aber insgesamt wurden weiterhin Wälder und Wiesen ausgebeutet, und zwar zu Gunsten der Acker- und Gartenflächen. Dünger stand nur in sozusagen natürlicher Form zur Verfügung und war entsprechend knapp, der bei der Stallhaltung anfallende Mist wurde daher auf die Äcker und in die Gärten ausgebracht, und nicht auf die Wiesen. Es fand eine stete Nährstoffverlagerung aus den Wiesen und Wäldern in die Äcker und Gärten statt; die Wiesen wurden immer magerer, extensiver und damit auch blütenreicher.
In dieses zwar nicht im Gleichgewicht befindliche, aber erstaunlich dauerhafte System der Landbewirtschaftung bzw. der Landausbeutung platzte nun Anfang des 19. Jahrhunderts die industriellle Revolution. Die Landwirtschaft mußte effektiver werden, um Arbeitskräfte für die Fabriken freistellen zu können; der Kunstdünger wurde erfunden und Maschinen für die Landbewirtschaftung entwickelt. Die damit verbundenen sozialen Umwälzungen (und ein gewisses Beharrungsvermögen der Landbevölkerung am Althergebrachten) bremsten die sich daraus ergebenden Veränderungen zunächst noch, die Entwicklung war aber letztendlich nicht aufzuhalten. Und insgesamt außerordentlich erfolgreich – spätestens nach dem zweiten Weltkrieg stand Mineraldünger in derart rauhen Mengen billig zur Verfügung, daß man den im Verhältnis arbeitsaufwendigen Stallmist für Äcker und Gärten nicht mehr benötigte, er war in gewissem Sinne übrig. Die von Verbrennungsmotoren angetriebenen Traktoren ermöglichten einen problemlosen Zugang zu weiter entfernten Arbeitsflächen, auch der Materialtransport war kein Problem mehr. Und so begann man, sich den traditionell (aus Sicht der Bauern) stiefmütterlich behandelten Wiesen und Weiden zuzuwenden. Eine wirkliche Notwendigkeit zur Grünlandwirtschaft bestand (und besteht) im Grunde zwar nur noch in Ungunstlagen, die sich wegen ungünstiger klimatischer, hydrologischer oder bodenbezogener Bedingungen nicht für Ackerbau eignen, aber das bereits erwähnte Beharrungsvermögen der Bauernschaft bremst (bisher) den Grünlandrückgang doch noch. Alllerdings wird das verbleibende Grünland nun tatsächlich bewirtschaftet, nicht nur nebenbei ausgenutzt; Ziel ist die Gewinnung von möglichst viel möglichst hochwertigem Viehfutter. Es wird gedüngt, gespritzt und so oft wie möglich gemäht – wertvoll ist dabei Futtergras, und keine Blumen. Das moderne Grünland ist grün, und nicht bunt.
Begehrlichkeiten des Naturschutzes sind damit kaum zu befriedigen, weshalb man (diesmal aus der Sicht des Naturschutzes) folgerichtig die verschwindenden extensiven, blütenreichen Mähwiesen unter Schutz stellt. Und zwar gleich richtig, d.h. unter europäischen Schutz, man definiert die bereits erwähnten LRT´s 6510 Magere Flachland-Mähwiesen und 6520 Berg-Mähwiesen. Und übersieht, daß es mit einer unter Schutzstellung, also einer reinen Gefahrenabwehr nicht getan ist, sondern ganz bestimmter menschlicher Aktivitäten bedarf, um derartige Lebensgemeinschaften zu erhalten. Aktivitäten, die im gegenwärtigen (Land-) Wirtschaftssystem keinen Platz mehr haben, keinen Gewinn erwirtschaften, Geld kosten. Man entdeckt die Notwendigkeit der Pflege – und zwar einer durchaus aufwendigen, da man ja historische Nutzungssysteme nachahmen muß, was heutzutage gar nicht so einfach ist. Allein die Entsorgung der nicht mehr verwertbaren Ernte stellt eine gewaltige Aufgabe dar – aus lebensnotwendiger Stoffgewinnung wird teure Abfallproduktion.
Der Naturschutz schützt durch teure, intensive Pflege ein ganz bestimmtes, durch extensiven Raubbau entstandenes Degradationsstadium von Natur, das natürlich auf so gut wie allen Standorten nie vorkommen würde – Nonsense.
Nun sind Blumenwiesen ja durchaus etwas schönes und schützenswertes. Aber handelt es sich bei den entsprechenden Aktivitäten tatsächlich um Naturschutz, schützt man wirklich Natur? Nach unseren obigen Überlegungen sicher nicht. Allerdings enthält das Schutzobjekt zweifelsohne eine Menge Elemente, die der Natur zuzuordnen sind, nicht-technische, nicht vom Menschen geschaffene Dinge wie eben Blumen, Gräser, zeigt Vorgänge, die ohne menschliches Zutun ablaufen, Austreiben, Wachsen, Blühen, Fruchten. Man kann die Jahreszeiten spüren, wenn man sich in einer Blumenwiese befindet, ja sogar, wenn man lediglich Bilder einer solchen anschaut, das Wetter, das Klima, die Bodenverhältnisse – alles Bestandteile der Natur. Allerdings müßten alle diese Komponenten per se eigentlich nicht geschütz werden, sie würden auch ohne jede menschliche Pflege, ohne jegliche Einflußnahme durch den Menschen, ja wohl auch trotz allen Aktivitäten des Menschen fortbestehen; sie würden sich nur des öfteren anders kombinieren, zu einer anderen Struktur führen, zu einer Struktur, die uns augenscheinlich meist weniger schützenswert erscheint. Man möchte im Allgemeinen eben nicht die Natur schlechthin schützen, sondern eine bestimmte Ausprägung von Natur, die oft erst durch Hinzufügen einer menschlichen Komponente, durch menschliche Einflußnahme entsteht. Solche Einflußnahme wird als Kultur bezeichnet. Aber das nur am Rande.
Naturschutz versus Klimaschutz – ein Bruderkrieg entbrennt
Das Klima verändert sich gegenwärtig, das globale Klimasystem nimmt an Energie zu, was man vereinfachend als Klimaerwärmung bezeichnet. Ein solcher Vorgang per se, eine Zunahme oder Verringerung des Energiegehalts der Atmosphäre ist nun nichts neues, hat nach allem, was man weiß, auch schon lange vor dem Auftreten des Menschen stattgefunden, mit oft extremen Auswirkungen, wie etwa in den Eiszeiten. Nebenbei, auch eine Eiszeit nach herkömmlichem Muster würde den Naturschutz nicht gerade begeistern, fielen ihr doch der weitaus überwiegende Teil all der schönen nach EU-Recht geschützten Lebensraumtypen und Arten unweigerlich zum Opfer. Da sich dies jedoch über einige Jahrtausende hinziehen würde, wäre der Leidensdruck des Naturschutzes auch über einen entsprechend langen Zeitraum verdünnt und damit möglicherweise kaum mehr wahrnehmbar.
Im aktuellen Fall verhält es sich aber deutlich anders, die gegenwärtige Klimaveränderung erfolgt im Vergleich zu den bisherigen Schwankungen rasend schnell, geradezu explosionsartig. Mit entsprechend abzusehenden gewaltigen und zeitnahen Auswirkungen auf die gegenwärtige Arten- und Lebensraumausstattung der Erde, was die Vertreter des Paradigmas einer zu erhaltenden statischen Gesamtstruktur der Natur mit schreckensweiten Augen auf sich zu kommen bzw. auf sich zu rasen sehen. Bei aller methodisch gebotenen Vorsicht im Umgang mit derart wenig erforschten und schwer zu modellierenden Phänomenen wie dem Klima scheint es nun mittlerweile doch weitgehend unbestritten, daß die vom Menschen verursachte erhebliche Zunahme klimarelevanter Gase in der Atmosphäre über den damit verbundenen Treibhauseffekt einen zumindest sehr deutlichen Anteil an den klimatischen Veränderungen hat. Will man also deren Dynamik bremsen, die Klimaveränderungen minimieren, und damit die mit viel Mühe definierten Objekte des Naturschutzes zumindest nicht sofort verlieren, so ist also an dieser Stelle anzusetzen, an dieser Schraube zu drehen. Der Ausstoß klimarelevanter Gase muß reduziert werden.
Einen nicht unerheblichen Anteil an diesen Gasen hat ja bekanntlich das Kohlendioxid, das (unter anderem) bei der Verbrennung fossiler Energieträger zum Zwecke der Freisetzung eben dieser Energie entsteht. Nun kann man versuchen, den Energieverbrauch entsprechend zu reduzieren, was aber recht schnell an deutliche Grenzen stößt, wenn man keine allzu brutalen Modifikationen seiner gegenwärtigen Lebensumstände in Kauf nehmen will, die in ihren Auswirkungen mehr als deutlich in Konkurrenz zu denen der Klimaerwärmung treten würden. Ohne Auto, elektrisches Licht, geheizte Wohnungen und all die anderen höchst energieintensiven modernen Annehmlichkeiten ist die Perspektive jedenfalls auch nicht schön. Also muß zur deutlichen Ergänzung der Sparbemühungen eine andere Art der Energiegewinnung her, womit wir bei den regenerativen Energien wären. Wind, Sonne und frisch gewachsene, also nicht fossile, sondern nachhaltig hergestellte Biomasse liefern Energie, ohne den Anteil an klimarelevanten Gasen in der Atmosphäre zu erhöhen. Der Königsweg, wir können unseren bevorzugten status essendi der Natur erhalten, wir betreiben Klimaschutz zum Naturschutz.
Auf die begriffliche Spitzfindigkeit, daß die Unterscheidung von, das Gegensatzpaar aus Klima und Natur zumindest diskussionswürdig erscheint, sei hier, wenn auch nicht zur Gänze, so doch weitgehend verzichtet.
Nun bedarf es aber zur Nutzbarmachung der regenerativen Energien für zivilisatorische Zwecke einer gewissen Konzentration derselben, man muß da was draus machen, das man technisch verwenden kann, z.B. Gas oder Strom. Und dazu bedarf es technischer Einrichtungen, Windräder, Photovoltaikanlagen, Biogasanlagen. Und zwar in nicht unerheblichen Mengen. Derartige durchaus landschaftsverändernde, wenn nicht gar landschaftsprägende Technik ist aber im Paradigmengebäude des gegenwärtigen Naturschutzes nicht vorgesehen; im Gegenteil, sie stört ganz gewaltig. Windräder weisen per definitionem bewegliche Teile auf, mit denen allerhand geschützte Arten zu ihrem deutlichen Nachteil kollidieren können, große, leistungsfähige Biogasanlagen brauchen direkt oder indirekt über die Verdauungstrakte des Nutzviehs eine Menge Mais, der wiederum eine Menge Fläche, mehr als bisher, und damit auch Fläche, wo bisher kein Mais war, sondern geschützte Lebensraumtypen, in denen prioritäre Arten lebten, die sich im Mais nicht mehr wohlfühlen. Mit eher noch extremeren, jedenfalls aber ungewohnteren Veränderungen gehen Freiflächen-Photo-voltaikanlagen einher; wo bisher eine Konversionsfläche mit Grünland oder ein Acker am Bahndamm waren, sind dann Modultische mit Magerrasenflächen. Man unterstellt nun Kreuzkröte, Zauneidechse & Co., daß sie damit nicht zu Recht kommen, und dem anfliegenden Wiesenbrüter, daß er voller Irritation wieder Kehrt macht und hinfliegt, wo er hergekommen ist. Diese Art von Anlagen geht aus Sicht des Naturschutzes gar nicht, jedenfalls nicht da, wo man sie machen will, und sonst eigentlich auch nirgends. Und dann noch das Landschaftsbild.
Der Naturschutz bekämpft in concretu und vor Ort den Klimaschutz mit allen gesellschaftlichen, juristischen und sonstigen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen. Den Klimaschutz, der nicht zuletzt zum Erhalt der Lebensraumtypen und geschützten Arten initiiert wurde, der gewünschten Struktur von Natur und Landschaft, die der Naturschutz verteidigt. Nonsense.
Das Paradigmengebäude des Naturschutzes – eine Prüfstatik
Wie wir gesehen haben, weist das aktuelle Paradigmengebäude des Naturschutzes, wir erinnern uns, ein bestimmter Zustand von Natur gilt als optimal oder doch zumindest als so ausreichend gut, daß man ihn zur Sicherung und Konservierung unter einen Schutzstatus stellt, so einige Schwächen auf.
Zunächst einmal ist der gegenwärtig praktizierte, mit ausführlichen Dokumentationen und Datenbasen versorgte und mit damit aufbauenden Rechtsinstrumenten gepanzerte Naturschutz schlicht fehleranfällig, und zwar, was nicht gerade überrascht, umso mehr, je komplizierter er aufgebaut ist. Je umfangreicher die Datenbasen sind und je strukturierter, komplexer und vernetzter die Rechtssysteme sind, desto mehr kann auch schief gehen. Viele Daten bedeuten immer auch viel Fehlerpotential, und eine komplexe Hierarchie von Zuständigkeiten, die dazu dient, eben auch eine Hierarchie in der Exekutive zu installieren, ist stabil, oder, aus einem anderen Blickwinkel ,träge. Was auch beabsichtigt ist; die kostbare und teuer erarbeitete, aufwendig statistisch geprüfte und gepflegte, durch alle Instanzen geläuterte Datenbasis wird von den oberen Hierarchieebenen mit aller Sorgfalt gesichert und ist nicht mehr in Frage zu stellen Dies schützt vor störenden Einflüssen und Manipulationen, aber eben meist auch vor der Korrektur von Fehlern – was es einmal zu einem amtlichen Status gebracht hat, behält ihn auch auf absehbare Zeit, ob berechtigt oder nicht.
Ebenso stehen die großen Axiome, aktuell die der maximalen Biodiversität, oder, aber das nur am Rande, der Maximierung der landwirtschaftlichen Produktion, nachdem man sich einmal auf sie geeinigt hat, nicht mehr zur Debatte, sind für die ausführenden Ebenen sakrosankt und werden von der Judikative mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verteidigt. Und sollte sich ein Konzept in der Praxis als untauglich erweisen, ist das zunächst ohne Belang; erst wenn ein neues Konzept den bewährten Weg durch die Instanzen in die edlen Gefilde der Axiome geschafft hat, wird das alte abgelöst. So sagt man. Seit Natura 2000 existiert, hat es so etwas aber noch nicht gegeben.
Da so eine teuer erkauftes Axiom ja nun auch von gesellschaftlichen Entwicklungen, von Moden gefährdet werden könnte, muß es selbstverständlich auch davor geschützt werden; wenn die Gesellschaft hier eine Änderung wünscht, kann sich der Einzelne ja durch sein Wahlverhalten artikulieren. Entsprechend wird dann nach ordnungsgemäßer Etablierung neuer Gedanken in alten oder neuen Parteien mit alten oder neuen Kandidaten über die Besetzung von alten oder die Schaffung von neuen Gremien ein entsprechender Vorschlag gemacht, und man sieht zu, ob er sich auch durchsetzen kann. Und wenn die Faktenlage kein Verständnis für ein ordentliches Verfahren hat und sich anarchistischer Weise vorher ändert, so ist das möglicherweise bedauerlich, jedenfalls aber irrelevant. Man hat ja schließlich einen Rechtsstaat zu führen. Und zwar rechtssicher.
Falls also von außen Probleme an das System herantreten, und sich ungeduldig gebärden, so haben diese ordentlich eine Nummer zu ziehen und zu warten, bis der zuständige Sachbearbeiter ihre Personalien aufnimmt. Alles andere ist ohne Bedeutung.
Man könnte die skizzierten Problemfelder nun als sozusagen interne Schwächen des Paradigmengebäudes ansehen; wenn wir ein bißchen besser auf unsere Datenbasis und unsere Reaktionsalgorithmen achten, und die Gremienarbeit ein wenig beschleunigen, vielleicht auch die eine oder andere Hierarche etwas verflachen, so wird das System schon ausreichend fit gemacht für die anstehenden Probleme. Vielleicht muß man sich auch langfristige Ziele stecken und mit Zwischenzielen versehen, die dann ggf. noch ein wenig eingepaßt werden können, wenn sich die Realität mal wieder unbotmäßig verhält.
Was man ja auch all die Jahre mit großer Begeisterung gemacht hat. Und weitgehend erfolglos.
Sehen wir und hierzu einmal die bundesdeutsche „nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ an; und um uns nicht dem Vorwurf negativer Berichterstattung auszusetzen, machen wir doch quasi den Bock zum Gärtner und betrachten die Einschätzungen, die die Bundesregierung selbst in Gestalt des Bundesamtes für Naturschutz trifft.
Auf seiner Webseite führt das Amt aus (www.bfn.de/0304_biodivstrategie-nationale.html, Downloaddatum 03.02.17), und ich zitiere hier bewußt etwas ausführlicher:
„Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung für die 17. Legislaturperiode ist die nationale Strategie zur biologischen Vielfalt weiterhin fest verankert und soll durch ein Bundesprogramm flankiert werden. Die Strategie kann als gesamtgesellschaftliches Programm angesehen werden. Insgesamt enthält die Strategie rund 330 Ziele und rund 430 Maßnahmen zu allen biodiversitätsrelevanten Themen. Damit ist die deutsche Strategie zur biologischen Vielfalt die weltweit anspruchsvollste.“
Zur Umsetzung wird angegeben:
„Die Verwirklichung der Ziele und Maßnahmen der NBS [Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt, eigene Anm.] ist keine Aufgabe des BMU oder der Bundesregierung allein, sondern aller staatlichen und nicht-staatlichen Akteure. Das Bundesumweltministerium (BMU) hat deshalb bereits im Dezember 2007 mit der Umsetzung der Strategie begonnen, einen umfangreichen Prozess zur Einbeziehung der gesellschaftlichen Gruppen in die Umsetzung der NBS gestartet und alle Akteure eingeladen, sich daran zu beteiligen:
- Einmal jährlich finden große Nationale Foren zur biologischen Vielfalt statt. Sie dienen der Vernetzung der Akteure untereinander und greifen aktuelle Schwerpunkte aus dem NBS-Umsetzungsprozess auf.
- In sieben Regionalen Foren wurde im Jahre 2008 die NBS in den verschiedenen Regionen Deutschlands bekannt gemacht und Schwerpunktthemen der Strategie diskutiert (siehe unten). In dieser Veranstaltungsreihe wurden auch Wünsche und Anregungen für den Dialogprozess gesammelt und ausgewertet.
- Im Sommer 2008 begann die Reihe akteursspezifischer Dialogforen. Ziel dieser Veranstaltungen ist es nicht mehr, in erster Linie über die NBS zu informieren, sondern aus der Fülle der Ziele der NBS die für bestimmte Akteursgruppen relevanten Ziele herauszugreifen und mit den Akteuren zusammen Wege zur Verwirklichung der Ziele zu suchen. Zwischenzeitlich sind bereits über 20 Dialogforen mit den unterschiedlichsten Akteuren durchgeführt worden. Diese Reihe wird fortgesetzt.
Für die Steuerung des gesamten Umsetzungsprozesses wurden geeignete Gremien im BMU (Lenkungsausschuss und sechs Projektgruppen) und in der Bundesregierung (Interministerielle Arbeitsgruppe von insgesamt 11 Bundesministerien unter Leitung des BMU) eingesetzt. In der Interministeriellen Arbeitsgruppe wird die Umsetzung der Strategie innerhalb der Bundesregierung koordiniert und vorangetrieben. Länder und Kommunen sind als staatliche Akteure in den Gesamtprozess eingebunden.“
Soweit, so gut, an einer organistatorischen Schwäche oder fehlendem Engagement der politischen und gesellschaftlichen Kräfte kann´s also schon mal nicht liegen, da wird geklotzt, nicht gekleckert. Die Umsetzung findet ebenfalls auf breiter Front statt; man hat ja stolze 330 Qualitäts- und Handlungsziele erarbeitet, aus denen „in 16 Handlungsfeldern rund 430 Maßnahmen staatlicher und nichtstaatlicher Akteure abgeleitet“ [13] wurden. Auch was das Monitoring angeht, läßt man sich nicht lumpen; 19 z.T. in sich durchaus komplexe Indikatoren werden bundesweit dauerhaft beobachtet und die Ergebnisse regelmäßig publiziert, bisher zu den Ständen 2010, 2013 und 2014.
Sehen wir uns also die bisherigen Ergebnisse der gesamtgesellschaftlichen Bemühungen einmal an.
Im Februar 2015 hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) den „Indikatorenbericht 20 14 zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“ herausgebracht, der auf 111 Seiten in aller Ausführlichkeit eine Zwischenbilanz zu ziehen. Und die fällt, um es gleich vorweg zu nehmen, nach der eigenen Einschätzung des BUMB nicht gerade berauschend aus:
„Hiernach liegen die Werte von elf Indikatoren mit einem konkreten Zielwert noch weit oder sehr weit vom Zielbereich entfernt. … Die bisher ergriffenen Maßnahmen reichen nicht aus, die in der Nationalen Strategie gesetzten Ziele in allen Teilaspekten zu erreichen.“[14]
Für den Indikator „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“ wird ein „statistisch signifikanter Trend weg vom Zielwert“ konstatiert, auch liegt „der aktuelle Wert … noch weit vom Zielbereich entfernt“[15]. Der Indikator „Gefährdete Arten“ befindet sich mit 21% deutlich außerhalb seines Zielwertes von 15%, ebenso der Indikator „Erhaltungszustand der FFH-Lebensräume und FFH-Arten“ mit 50% erreichtem und 80% angestrebeten Zielwert, beim Indikator „Invasive Arten“ scheint´s einigermaßen zu klappen, wenn hier auch keine Wertung vorgenommen wird, für den Indikator „Gebietsschutz“ stellt man einen positiven Trend fest, wobei man vorsichtshalber keinen klaren Zielwert definiert, sondern sich in allerhand nicht mit dem Indikator deckungsgleichen Szenarien verliert und nicht vergißt darauf hinzuweisen, daß der Indikator keine Aussagen zu Qualität des Gebietsschutzes enthält. Der Indikator „ökologischer Gewässerzustand“ ist desaströs (10 % von angestrebeten 100 %), beim Indikator „Zustand der Flußauen“ sind immerhin 19 von angestrebten 29 % erreicht. Um nur einige Indikatoren zu nennen.
Da gibt es nun nichts schönzureden, wie auch das BMUB offen bekennt:
„Zwar wurden viele der in den Aktionsfeldern der Nationalen Strategib zur Biologischen Vielfalt formulierten Maßnahmen bereits in Angriff genommen, die daraus resultierenden positiven Wirkungen lassen aber häufig noch auf sich warten. Das liegt zum einen daran, daß Belastungen bisher nicht in ausreichendem Maß reduziert werden konnten. Zum anderen benötigen Bestände von Tier- und Pflanzenartensowie Biotope oftmals lange Zeiträume für eine Regeneration, weswegen sich Erfolge erst mit erheblicher Verzögerung … niederschlagen können.“
Die positiven Wirkungen kommen also, das steht fest, nur nicht jetzt und nicht so stark. Schnaps hilft gegen Zahnweh. Und wenn das Zahnweh nicht weggeht, muß man halt länger und mehr davon trinken.
Das kann man nun in der Tat so sehen, wissenschaftstheoretisch ist da nichts Grundlegendes einzuwenden. Außer vielleicht ein gewisser Trend zur Immunisierung, aber das nur am Rande. Man muß es aber nicht so sehen; betrachten wir doch einmal einen alternativen Ansatz, hören wir, um in der Metapher zu bleiben, mal probeweise mit dem Saufen auf und gehen zum Zahnarzt.
[1] Bundesverwaltungsgericht (BVerwG); Urteil vom 14.07.2011, AZ. 9 A 12/10 (Freiberg-Urteil)
[2] ebenda, S 54
[3] Wobei Gesetz hier allgemein zu verstehen ist, als Gesamtheit der gesellschaftlichen Vereinbarung, nicht als einzelne Rechtsnorm.
[4] So z.B. in der Zustandserfassung zum NSG: Beutler, A.; NSG Mertinger Höll – Zustandserfassung und Pflege- und Entwicklungsplan – Endbericht Teil A : Vegetationskundliche Zustandserfassung; 1992
[5] Rösel, H.; Umsetzung Gesamtökologische Gutachten Donauried im Auftrag Projektgruppe GÖG – Wiedervernässung Mertinger Höll, Dauerbeobachtungs-flächen Vegetation; 2005
[6] Rösel, H.; FFH-Gebiet 7330-301 Mertinger Hölle und umgebende Feuchtgebiete – Übersichtskartierung zum Vorkommen von FFH-Lebensraumtypen und FFH-Arten zur Erstellung eines Managementplanes; 2004
[7] http://www.lfu.bayern.de/natur/natura_2000_erhaltungsziele/ datenboegen_7028_7942/doc/7330_301.pdf
[8] Landesamt für Umweltschutz Sachsen-Anhalt; Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt – Sonderheft 2: Empfehlungen für die Erfassung und Bewertung von Arten als Basis für das Monitoring nach Artikel 11 und 17 der FFH-Richtlinie in Deutschland Halle (2006) S 191f
[9] So z.B. Hermann, G., Trautner, J.; Der Nachtkerzenschwärmer in der Planungspraxis, Naturschutz und Landschaftsplanung 43(10); 2011, S 293: „Inwieweit der Nachtkerzenschwärmer eine aus fachlicher Sicht „passende“ Art für Anhang IV der FFH-Richtlinie ist, soll hier nicht diskutiert werden.“
[10] Hermann/ Trautner
[11] vgl. Haber, W.; Landwirtschaft und Naturschutz; 2014, S 75ff
[12] vgl. hierzu Haber, W.; Landwirtschaft und Naturschutz; 2014, S 20ff und Haber, W., Held, M., Vogt M. (Hrsg.); Die Welt im Anthropozän; 2016 S 18ff,
[13] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB); Indikatorbericht 2014 zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt; 2015, S 5
[14] ebenda S 98f
[15]ebenda S 12ff