Helmut Rösel, Landschaftsarchitekt | Naturschutz gleich Nonsense – der Polemik zweiter Teil
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Jan 29 2020

Naturschutz gleich Nonsense – der Polemik zweiter Teil

Probeweise –  ein Paradigmenwechsel

Wie gesagt, es geht zunächst einmal nur um ein Gedankenspiel, um eine unverbindliche Betrachtung der ganzen Problematik von einer anderen Seite. Wenn man nun schon für einen anderen Blickwinkel um das Problem herumwandert, dann kann man sich auch eine deutlich, ja radikal andere Sichweise erlauben. Versuchen wir es doch einfach gleich mit einem Paradigmenwechsel, und zwar, um unser Gedankenexperiment richtig auszunutzen, mit einem zweifachen. Wobei wir, wenig originell, aber zielführend zunächst mit dem ersten Teil anfangen.

Das gegenwärtige Paradigma des Naturschutzes geht also davon aus, daß die Natur einen bestimmten optimalen Zustand hat oder vielmehr haben kann, den der Mensch zunächst zu befördern und dann, so dieser denn erreicht, zu bewahren hat. Bei unserem alternativen Ansatz verneinen wir zum ersten und ganz grundlegend, daß Natur überhaupt einen Zustand, eine statische Struktur hat; Natur besteht aus vielmehr aus dauernd ablaufenden Prozessen, sie ist keine Struktur im Sinne einer stabilen Erscheinungsform, sondern reine Funktion. Was wir als Strukturen wahrnehmen, ist erkenntnistheorethisch bedingt, stellt eine Abstraktion des tatsächlichen Sachverhalts dar. Unser Verstand macht sozusagen ein geistiges Foto und benutzt die so rein verstandesmäßig erzeugte feste Struktur als Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen. In realiter laufen die Prozesse aber weiter, unser erkenntnistheorethisches Foto ist unmittelbar nach, ja quasi im Augenblick seiner Entstehung in der Wirklichkeit bereits nicht mehr vorhanden, die scheinbare Struktur hat sich bereits verändert und verändert sich immer weiter.

Am Rande sei bemerkt, daß gegen derartige geistige Momentaufnahmen nichts einzuwenden ist, ja man auf sie wohl aus Gründen der menschlichen Warnehmungsfähigkeit angewiesen ist; man sollte sich aber der Abstraktion bewußts ein und sein Bildlein von der Natur nicht mit der Natur verwechseln.

Also: Paradigmenwechsel 1 verläßt die Annahme einer statischen Natur mit fixen Strukturen und geht von einer prozessualen Natur aus, die anstatt aus Strukturen ausschließlich aus Funktionen besteht.

Was hat das nun für Konsequenzen? Sehen wir uns unsere bisherigen Nonsense-Beispiele doch einmal unter diesem Aspekt an.

 

Die Mertinger Höll

Wir erinnern uns, für das FFH-Gebiet Mertinger Höll, einen außerordentlich wüchsigen Niedermoorstandort, wurde „die Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Glanzstendels“ als Erhaltungsziel gfestgesetzt. Beim Glanzstendel, Liparis loeselii, handelt es sich um eine konkurrenzschwache, niedrige Orchidee, für die in der Mertinger Höll keine geeigneten Standorte vorhanden sind und wohl auch nie waren; die Art ist im Laufe der langen naturschutzfachlichen Bearbeitungshistorie des Areals wohl durch einen schlichten Bestimmungsfehler in die Florenlisten gerutscht und hat dann dort Karriere gemacht.

Sowas kommt vor und läßt sich auch kaum vermeiden, Fehler passieren eben. Wenn wir nun aber unser neues Paradigma 1 anwenden, also nicht von einer charaktergebenden und damit detailliert zu erhaltenden Struktur ausgehen, von einer ganz bestimmten Artenausstattung, deren einzelne Komponenten zu schützen sind, sondern von einem Funktionsgefüge, so hat ein solcher Fehler keine Folgen, würde nicht zu Schwierigkeiten in der Umsetzung von Rechtstiteln führen wie im skizzierten Fall. Schutzgut ist dann nicht eine bestimmte Struktur, und damit auch keine bestimmte Artenausstattung, sondern eine Funktion, also etwa eine ungehinderte und im Saldo positive Wasserzufuhr über Grund- und Oberflächenwasser und damit ein lebendiger, funktionierender und zur Eigenerhaltung und Weiterentwicklung fähiger Naßstandort. Dieser bildet unter den gegebenen Bedingungen ein nährstoffreiches Niedermoor aus, mit hohem, weitgehend gehölzfreiem Bewuchs und Akummulation von organischer Substanz. Ein solches System dient als Kohlenstoffsenke, ist mithin auch positiv klimawirksam, puffert den Wasserhaushalt der Großlandschaft und entwickelt eine standortangepaßte Flora und Fauna – mit welchen konkreten Einzelarten auch immer.

Will man nun an einem solchen Standort etwas modifizieren, so ist es die Funktion, die Objekt der manipulativen Begierde werden muß, nicht eine bestimmet Struktur, etwa eine Einzelart. Sollen niederwüchsige, konkurrenzschwächere Arten verstärkt vorkommen, so muß man am Nährstoffgehalt des zugeführten Wassers und an der Torfmineralisation ansetzen; werden diese reduziert, wird das Funktionengefüge des lokalen Ökosystems entsprechend modifiziert, so wird sich die Vegetation anpassen. Mit welchen konkreten Strukturen, mit welcher Artenausstattung genau ist aus dieser Sicht unerheblich. Vielleicht sind ja auch andere als die bisherigen Arten besser an ein solches System angepaßt, bilden ein stabileres Artengefüge aus, möglicherweise auch mit anderen, vielleicht sogar mehr seltenen Arten. Wobei letzteres in unserer neuen Betrachtungsweise bestenfalls das Sahnehäubchen darstellt, nicht wirklich entscheidend ist.

 

Extensive Grünlandnutzung

Als nächstes werden wir uns nicht mit Proserpina beschäftigen, das heben wir uns für den zweiten Teil unseres Paradigmenwechsels auf.

Zunächst also zur extensiven Grünlandnutzung. Wie wir gesehen haben, handelt es sich bei extensivem Gründland in unseren Breiten zum weitaus überwiegenden Teil um ein aus menschlichem Raubbau entstandenes Degenerationsstadium natürlicher Wälder. Derartiger Raubbau ist heutzutage nicht mehr nötig, in Zeiten weitestgehend unbegrenzter Energie- und Nährstoffverfügbarkeit auch aus wirtschaftlicher Sicht gar nicht mehr sinnvoll und muß durch teure, selbst durchaus als intensiv anzusehnede Pflegemaßnahmen herbeigeführt werden. Und zwar, nach Ansicht des amtlichen und analog, aber im Detail oft nicht übereinstimment des ehrenamtlichen Naturschutzes, in einer jeweils ganz bestimmten Ausprägung, mit einer recht eng definierten Struktur, z.B. als LRT 6510 Magere Flachlandmähwiese.

Gerade der Schutz, die Erhaltung einer solchen konkreten Struktur ist bei unserem neuen, funktionsorientierten Paradigma aber nicht mehr wesentlich. Schutzziel ist dabei vielmehr ein ausgeglichener, sich auf mittlerem bis niedrigem Niveau befindender Nährstoffhaushalt einer Landschaft, die dann im Falle einer entsprechenden Nutzung auch bunte Wiesen ausbilden wird. Die Nutzung kann sich bei einem solchen Ansatz auch am Bedarf orientieren, also z.B. der Heuerzeugung für die Pensionspferdehaltung in einem städtischen Umfeld, wo eine entsprechende Nachfrage besteht. Und die bunte Wiese kann auf die jeweiligen Rahmenbedingungen reagieren, etwa auf eine klimatische Veränderung an einem Standort – ob diese nun eine Folge exzessiver menschlich verursachter Treibhausgasemission oder natürlicher klimatischer Schwankungen ist, wäre dabei ebenfalls unwesentlich.

Nun sind Salbei-Glatthaferwiesen auch einfach schön, das sei unbestritten, und können selbstverständlich auch in einem funktionsorientierten Paradigmensystem weiterhin an einigen Stellen erhalten werden, aber dann aus ästhetischen Gründen, eben weil sie schön sind, Spaß machen. Freilichtmuseen wären dafür geeignete kulturelle Einrichtungen, oder touristisch genutzte Landschaften.

Ziel ist dabei dann explizit die ästhetische Funktion; dann wäre auch die ganz exakte Artenausstattung nicht mehr so wichtig, weil es ja um die Funktion des Spaßmachens geht, nicht um eine bestimmte Struktur. Man könnte also geeignete Anpassungen in der Artenausstattung zulassen oder sogar vornehmen, die z.B. einen geringeren Pflegeaufwand mit sich brächten – und damit einen geringeren Aufwand an fossilen Energieträgern.

 

Klimaschutz und Naturschutz

Womit wir bei den gegenwärtig sehr aktuellen klimatischen Veränderungen angekommen wären, die ja nach zunehmender wissenschaftlicher Übereinkunft recht deutlich an den menschlichen Energieverbrauch und die damit verbundene Freisetzung von bisher meist fossil gebundenen klimarelevanten Gasen gekoppelt ist. Der Mensch scheint zum ersten Mal in der Geschichte gewissermaßen geologische Kräfte zu entfalten, globale physikalische Veränderungen hervorzurufen; man spricht ja aktuell so schön vom Anthropozän, um der globalen Macht des Homo sapiens gerecht zu werden, ihn in seiner Wirkdimension mit den Mächten gleichzusetzen, die bisher z.B. Eiszeiten bewirkt haben.

Ein schönes Bild; durch die Hintertür wird dabei aber suggeriert, der Mensch könne diese seine Kräfte frei, gezielt und willentlich einsetzen. Was ihm gefällt, wird weitergemacht, was weniger günstig gesehen wird, muß man halt ändern. Fossile Energie darf nicht mehr verbraucht werden, aber die gegenwärtige Landschaft und ihre Artenausstattung wird man sich doch nicht durch Windräder verspargeln oder durch Freiflächenphotovoltaikanlagen verspiegeln lassen. Kommt ja gar nicht in Frage. Oder Stromleitungen. Wie häßlich. Oder unterirdische Leitungstrassen. Auch keine schöne Vorstellung, irgendwie unbehaglich und außerdem gewaltig teuer. Will man nicht. Aber den Verbrennungsmotor abschaffen, ab 2030 nur noch Elektroautos – selbstverständlich ohne Atomstrom.

Nun wird man früher oder später feststellen, daß es mit dieser menschlichen Autonomie des Handelns nicht so weit her ist, wie man sich das wünscht. Dabei möchte ich gar nicht von den sozusagen menschheitsinternen Widerständen reden, etwa der endlose Reihe von Klimaschutzkonferenzen, deren bisherigen gefeierter Höhepunkt in Paris geschichtsträchtig darin kulminiert, daß alle bekennen, sie könnten sich schon vorstellen, irhendwann irgendwas zu machen. Was man dann 2017 in Bonn konkretisiert hat. Man könnte sich sogar vorstellen, Regeln aufzustellen. Welche weiß man noch nicht, aber Regeln wären grundsätzlich denkbar. Schon toll.

Nein, man wird irgendwann feststellen, daß die Menschheit Teil eines Funktionengefüges, eines Systems ist, das kybernetischen Regeln gehorcht. Und zwar ohne die Menschheit zu fragen. Bestimmte vom Menschen initiierte Aktionen haben unweigerlich bestimmte Reaktionen des Systems zur Folge, und bestimmte vom Menschen angestrebte Ziele sind mit genauso bestimmten Voraussetzungen und Vorarbeiten fest verbunden. Sogar wenn man die technischen Probleme soweit in den Griff bekommt, daß man die Mobilität auf Elektroautos umstellt, brauchen diese, richtig, Strom. Und daß der nicht von selbst aus der Wand kommt, wird einem schnell deutlich werden.

Eine funktionsorientierte Betrachtungsweise bietet dabei die Möglichkeit, eben derartige Zusammenhänge zu erkennen, die Verknüpfungen zu betrachten und anzuerkennen, die hinter bestimmten Strukturen stehen, ja, vielleicht sogar zu verinnerlichen, daß Strukturen nur Standbilder der Funktionen sind und ohne diese nicht vorhanden wären. Strukturen stehen für den Betrachter weitgehend asyndetisch nebeneinander, was leicht zu eben unserem Fehlschluß einer beliebigen Kombinierbarkeit der jeweils gewünschten Strukturen und einer Vermeidung der unerwünschten führt. Legt man sein Augenmerk dagegen auf die Funktionen, werden die einzelnen Abhängigkeiten deutlicher, und man erkennt die Grenzen seiner Möglichkeiten. So gesehen ist der Begriff des Anthropozäns sogar unbeabsichtigt treffend; der Mensch beeinflußt die Welt zwar in der Art einer geologischen Größe, kann das aber augenscheinlich genausowenig bewußt steuern und zu beliebigen Ergebnissen führen, wie die Plattentektonik nach einem selbst gewählten Schema Fjorde basteln kann, weil sie diese so spannend findet.

Und diese Erkenntnis könnte eine Eigenschaft befördern, die es dem Menschen in seiner Umwelt deutlich leichter machen würde; sie könnte zu einer gewissen Demut gegenüber den Funktionszusammenhängen der Erde, ja des Universums führen. Und aus dieser wiederum könnte Vertrauen entstehen in ein System, das seit Jahrmilliarden funktioniert hat, im aktuellsten Augenblick seines Daseins, in dem der Mensch aufgetaucht ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter funktionieren wird, und dies auch nach Verschwinden des Menschen beibehalten dürfte. Was uns dann zugegebener  Maßen weniger berühren mag.

Aber genug der kosmischen Höhenflüge, es geht auch eine Stufe konkreter. Schauen wir Proserpina an, die wir uns ja bis jetzt aufgehoben haben, weil die diesbezüglichen Fragestellungen so gut zum zweiten Teil unseres Paradigmenwechsels passen.

 

Des Paradigmenwechsels zweiter Teil

Wir haben gesehen, daß das gegenwärtige Paradigma des Naturschutzes postuliert, daß es für die Natur einen bestimmten optimalen Zustand gibt, den der Mensch herbeizuführen, zu entwicklen und zu bewahren hat. Im ersten Teil unseres Paradigmenwechsels haben wir diesen statischen Zustand durch die Funktion ersetzt, sind von dauernd weiterlaufenden Prozessen an Stelle eines festen Zustandes ausgegangen. Jetzt ist es an der Zeit, uns etwas genauer mit der Rolle des Menschen zu befassen.

Unser neues Paradigma definiert auch die Rolle des Menschen neu; der Mensch hat keine leitende, steuernde, entwickelnde Position, die ihn über andere Systemkomponenten herausheben würde. Das ist bitter und schreit nach Widerstand – Natur ohne Naturschützer? Wald ohne Förster? Biodiversität ohne fachgerecht gepflegtes Extensivgrünland, aus Mähgutübertragung, zweischürig, nicht gedüngt, keine Pestizide, aber mit Monitoring? Nun, der Begriff „ohne“ ist vielleicht ein wenig hart – der Mensch kann, soll und wird seine Rolle in der Natur spielen, aber eben eine Rolle neben vielen anderen. Der Mensch ist eine Systemkomponente unter vielen.

Und hier dringen wir nun allmählich zum Kern der ganzen Sache vor. Wir müssen das System Natur nicht schützen und können das auch gar nicht. Sogar der vielbeschworene atomare Weltkrieg wird das Leben nicht auslöschen – oder vielleicht schafft er (bzw. wir) das sogar, aber dann fängt die Evolution halt wieder von vorne an. Vielmehr sollten wir uns dahingehend schützen, daß wir durch unser Verhalten das System in einem Zustand halten, der für uns angenehm ist. Und uns dabei bewußt sein, daß diese Funktion, uns angenehme Lebensverhältnisse zu gewähren, auch wieder auf eine ganze Reihe von verschiedenen Weisen erreichbar ist. Wobei wir die genaue Wahl der Mittel keineswegs vollständig selber in der Hand haben – uns bleibt nichts anderes übrig, als dem System, dessen Teil wir sind, zu vertrauen.

 

Proserpina

Die Gelegenheit zu einer schönen Übungsaufgabe für unsere neue Bescheidenheit gibt uns nun Proserpina. Wir möchten die Art schützen. Gut. Dafür müssen (und können) wir aber nichst weiter tun, als die Art einfach in Ruhe lassen und nicht jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche mit unserem Gestaltungswillen zu überziehen. Und zwar nicht nur in der sogenannten Wildnis, ganz weit weg und ganz weit draußen, sondern direkt vor unserer Haustüre. Einfach mal ein wenig Stadtfläche sich selbst überlassen, nicht aufräumen – dabei entstehen die Pionierstandorte, die Proserpina schätzt. Denn Rest macht Proserpina ganz alleine, und zwar unter voller Ausnutzung des ihr vom System zugestandenen Freiheitselements. Nicht immer so und an der Stelle, wo wir uns das gedacht haben. Aber da die Art das seit Jahrtausenden ohne unsere Hilfe hingekriegt hat, dürfte nicht allzuviel Naivität in der Annahme liegen, daß der Schmetterling auch weiterhin zurecht kommt. Wenn wir ihn lassen.

 

Naturschutz gleich Sense –  eine Anregung

Unser neues Paradigma versteht also die Natur als ein System aus Funktionskomponenten, die einen sich dauernd verändernden Prozeß oder vielleicht besser ein Prozeßgefüge bilden. Eine dieser Komponenten sind wir, die Menschheit als Ganzes und jeder Einzelne von uns, und wir können unsere Funktion im System auf die Weise ausfüllen, die uns günstig erscheint. Was wir nicht können, ist, die kybernetischen Regeln zu ändern. Jede unserer Funktionsinterperationen wird nach diesen Regeln auf die anderen Komponenten einwirken. Und diese auf uns. Und zwar ohne uns zu fragen, auf selbst- und nicht menschenbestimmte Weise, die wir nicht vorhersagen, selten im Nachhinein völlig verstehen und niemals beherrschen oder auch nur ausreichend kontrollieren können.

Dieses sozusagen allumfassende System, das dem entspricht oder dem zu Grunde liegt, was wir Natur nennen, verhält sich dabei auch in seiner Gesamtheit keineswegs statisch; nicht nur die einzelnen Komponenten sind in dauerndem prozessualen Fluß, auch das System als Ganzes verändert sich, entwickelt sich, unterliegt einem Fortschritt. Wobei dieser nicht im wirtschaftlichen oder wissentschaftlichen Sinn als Veränderung in Richtung einer Verbesserung zu verstehen ist, da für eine solche Sichtweise in einem umfassenden System schlicht der Maßstab fehlt; sind die Trockenrasen der schwäbischen Alb eine Verbesserung im Vergleich zu den Korallenriffen des Thetys-Meeres, und wenn, dann nach welchem Maßstab? Nein, das System verändert sich einfach in gegenseitigem Wechselspiel.

Und in diesem Wechselspiel muß nun der Mensch seinen Platz finden bzw. nach den ihm zu Gebote stehenden Mitteln diesen Platz modifizieren. Hier haben wir allerdings einen Bewertungsmaßstab, ob diese menschlichen Aktivitäten positiv oder negativ einzuordnen sind – nämlich uns selbst, unser Wohlbefinden. Wenn wir unsere Mittel so einsetzen, daß andere Systemkomponenten Schaden nehmen, so fällt das nach nüchternen, von uns nicht veränderbaren und bei einer vermenschlichenden Betrachtungsweise gnadenlosen, jedenfalls aber emotionslosen Regeln wieder auf uns zurück, mal sofort, mal erst später und aus einer unerwarteten Richtung, aber in jedem Fall. Ja, durch den Treibhauseffekt kann es auch kälter werden, wie wir im aktuellen Winter 2017/ 18 in den USA sehr schön verfolgen können. Das System pendelt, und wird sich früher oder später auch wieder einpendeln; ob wir dabei unter die Räder kommen, ist für das System völlig irrelevant.

Unser Ziel muß also aus reinem Eigeninteresse darin liegen, aus den Systemveränderungen, ob sie nun von uns kommen oder nicht, das für uns Beste zu machen. Und das bedeutet zu einem erheblichen Anteil, sich an das System anzupassen, nicht umgekehrt zu versuchen, das System an uns anzupassen; wir müssen in eine Koevolution mit dem System eintreten, oder vielmehr uns dieser ohnehin und unweigerlich ablaufenden Koevolution bewußt werden. Dies beinhaltet dabei durchaus auch Chancen für uns; ja, auch wir können von den anderen Systemkomponenten, von der Natur lernen, Erkenntnisse mit für uns positiven Effekten gewinnen, die uns ohne die Natur nicht gelungen wären.

Unseren eigenen, mehr oder weniger begrenzten Einfluß, unsere Rolle, unsere Interpretation der uns zugestandenen Funktion können wir dabei selbstverständlich gestalten – und hier wären wir dann bei einem Naturschutz angelangt, der Sinn macht. Wir schützen uns, quasi unsere eigene Natur vor Kollisionen mit den anderen Systemkomponenten, weil wir von beschädigten Systemkomponenten keinen Vorteil haben, für uns wichtige Funktionen selbst übernehmen müssen, ohne das auch nur annähernd zu beherrschen. Heerscharen chinesischer Wanderarbeiter, die im Frühjahr mit Pinselchen in Obstbäumen herumklettern und Befruchter spielen, sprechen für sich selbst. Weil wir bei solchen Zusammenstößen immer auch selbst Kratzer und Dellen abbekommen. Im günstigsten Fall.

Naturschutz gleich Sense.

 

 

 

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