
Naturschutz gleich Nonsense – zwei Exkurse zur Abrundung
Zum besserne Verständinis der ersten beiden Teile und zur Abrundung der Argumentation seien abschließend noch zwei kleine Exkurse erlaubt, die im vorherigen den Lesefluß hätten stören können. Schließlich war ja durch die recht ausführliche Darstellung ohnehin schon einiges an Geduld gefragt.
Exkurs eins – über Paradigmata
Der Begriff des Paradigmas ist für meine kleine Polemik immens wichtig, wichtiger, als das tatsächliche Vorkommen des Wortes im Text vermuten läßt. Lassen Sie uns zunächst eine zeitgemäße Annäherung an den Begriff versuchen – was sagt Wikipedia dazu?
„Das Wort Paradigma (griechisch παράδειγμα parádeigma, aus παρὰ parà „neben“ und δείκνυμι deiknymi „zeigen“, „begreiflich machen“…) bedeutet „Beispiel“, „Vorbild“, „Muster“ oder „Abgrenzung“, „Vorurteil“; in allgemeinerer Form auch „Weltsicht“ oder „Weltanschauung“. Seit dem späten 18. Jahrhundert bezeichnet Paradigma eine bestimmte wissenschaftliche Lehrmeinung, Denkweise oder Art der Weltanschauung. Wenn sich eine solche grundlegend ändert, nennt man das Paradigmenwechsel. …
Die gebräuchlichste Verwendungsweise des Wortes in diesem Zusammenhang geht jedoch auf den amerikanischen Wissenschaftstheoretiker Thomas Samuel Kuhn (1922–1996) zurück, der darunter „Lehrmeinung” versteht und damit einen Satz von Vorgehensweisen beschreibt. …
Kuhn meint mit Paradigma also ein vorherrschendes Denkmuster in einer bestimmten Zeit. Paradigmen spiegeln einen gewissen allgemein anerkannten Konsens über Annahmen und Vorstellungen wider, die es ermöglichen, für eine Vielzahl von Fragestellungen Lösungen zu bieten. In der Wissenschaft bedient man sich in diesem Zusammenhang auch oft Modellvorstellungen, anhand derer man Phänomene zu erklären versucht.“
Wir wollen hier unter einem Paradigma zwar auch eine Weltsicht, einen Satz von Vorgaben verstehen, die den Ausgangspunkt einer Untersuchung, einer Sichtweise der Welt darstellen und von der Untersuchung selbst nicht mehr hinterfragt werden, eine Art methodischem Axiomensatz also. Im Gegensatz zu oder eigentlich eher in Ausdifferenzierung von Kuhn nehmen wir aber ein abgestuften und gegliedertes Paradigmensystem an, das gleichzeitig existiert – es gibt ein herrschendes Paradigma für z.B. den Naturschutz und ein durchaus anderes für juristische Fragestellungen, ja man könnte diese Differenzierung soweit treiben, daß man für jeden Menschen sein eigenes Paradigmengemenge annimmt.
Die Problematik besteht nun darin, daß Paradigmen auch derselben Ebene nicht untereinander vergleichbar sind, weil man einen gemeinsamen Bezugspunkt für einen Vergleich benötigt, zumindest in Form einer gemeinsamen Begrifflichkeit, und es diesen eben nicht gibt. Um auf die Ebene des persönlichen Paradigmas zu gehen, ein Börsenmakler und ein Zen-Mönch werden sich nicht sinnvoll über den Begriff „Glück“ unterhalten können.
Dies hat nun für die zu vergleichenden Paradigmen im Grunde keine Konsequenzen, sie bleiben gleichberechtigt nebeneinander stehen und behalten, ja definieren für ihren Bereich ihre uneingeschränkte Gültigkeit. Komplizierter wird die Angelegenheit aber, wenn zwei Paradigmen sich auf einen, und zwar denselben, dritten Gegenstand oder Sachverhalt beziehen; hier kommt der Begriff der Wirklichkeit ins Spiel. Es gibt juristische Betrachtungen zu einer Landschaft, einem Moor oder einer Tierpopulation, und es gibt naturschutzfachliche – und es gibt die Landschaft, das Moor oder die Tierpopulation selbst. Ich vermeide hier bewußt den Begriff der Wahrheit, um allzu weitgehende metaphysische Verzweigungen zu umgehen, und spreche von Wirklichkeit in einem funktionalen Sinn – es kommt darauf an, ob Aussagen eines oder mehrerer Paradigmen zu einem konkreten Sachverhalt dessen Wirklichkeit, dessen Strukturen und Funktionen treffend abbilden oder eben nicht, ob Voraussagen stimmen und Eingriffe die beabsichtigten Folgen haben.
Ich denke, wir müssen jetzt einen Schritt zur Seite machen, das jeweilige Paradigman verlassen und das oder die Paradigmen in ihrem Verhältnis zu einer konkreten Wirklichkeit von einem übergeordneten Standpunkt aus betrachten – wir brauchen sozusagen ein Meta-Paradigma, von dem aus wir unsere weiteren Betrachtungen angehen. Dieses sollte so weit wie möglich gefaßt, so hoch wie möglich in unserem hierarchisch organisierten Ausdifferenzierungsystem angesiedelt sein, um die Notwendigkeit einer Wiederholung unseres Zurücktretens zu vermeiden. Entsprechend muß es auch sehr allgemein gehalten sein, muß sich mit den übergreifenden Strukturen und Fragestellungen befassen bzw. diese definieren. Wird werden also im folgenden wagen, einen philosophischen Standpunkt einzunehmen. Um bei Wikipedia zu bleiben:
„In der Philosophie (griechisch φιλοσοφία, lateinisch philosóphia, wörtlich „Liebe zur Weisheit“) wird versucht, die Welt und die menschliche Existenz zu deuten und zu verstehen.
Von anderen Wissenschaften unterscheidet sie sich dadurch, dass sie sich nicht auf ein spezielles Gebiet oder eine bestimmte Methodologie begrenzt, sondern durch die Art ihrer Fragestellungen und ihre besondere Herangehensweise an ihre vielfältigen Gegenstandsbereiche charakterisiert ist.“
Wir wollen nicht eine bestimmte philosophische Schule verwenden, was ja unser Paradigmenproblem nur verschieben würde, sondern Philosophie dahingehend verstehen, daß wir einen Standpunkt von größtmöglicher Allgemeinheit und maximal erreichbarer Neutralität einnehmen. Dies wird uns nicht vollständig gelingen, da wir natürlich unser eigenes individuelles Paradigmensystem nicht verlassen können, womit sich unsere angenommene Paradigmenhierarchie irgendwie in den eigenen Schwanz beißt; da die sich daraus in letzter Konsequenz ergebende totale Skepsis und Aporie uns aber auch nicht weiter bringt, werden wir es einfach trotzdem versuchen. Alle Bewertungen, Kritiken und Folgerungen des weiteren Textes werden von einem möglichst übergeordenten Standpunkt oder eben Paradigma aus betrachtet, was wir als philosophische Betrachtungsweise definiert haben.
Exkurs zwei – über Systeme
Der Begriff des Systems ist ja nun recht schillernd, in (fast) aller Munde und wird dementsprechend auch recht vielfältig interpretiert und verwendet – vom Steuersystem über das Gesundheitssystem, die botanische und zoologische Systematik und das Sonnensystem bis hin zum Ordnunsgsystem einer Bibliothek. Ich möchte hier nicht in die aktuelle, durchaus vielschichtige und hitzig geführte Debatte zum rechten und wahren Gebrauch des Begriffs einsteigen; vielmehr soll an dieser Stelle einfach nur kurz festgelegt werden, was wir in unserer Argumentation unter einem System verstehen wollen. Wir wählen hier einen systemtheoretischen Ansatz. Was auf den ersten Blick nach einer trivialen Tautologie klingt, nach einem weißen Schimmel, hat sich in der Wissenschaftstehorie als eigene Betrachtungsweise des Systembegriffs herausgebildet, die in der sog. Allgemeinen Systemtheorie behandelt wird. Der Kerngedanke läßt sich ganz treffend wie folgt zusammenfassen:
„In einem System manifestiert sich eine makroskopische Ordnung, die sich nicht direkt aus den im System ablaufenden mikroskopischen Wechselwirkungen und Prozessen herleiten läßt. Der Systembegriff entspricht daher grundsätzlich nicht-reduktionistischen Denkformen, was mit dazu beiträgt, daß er in der westlichen Wissenschaft nur unter großen Schwierigkeiten Eingang findet.“[1]
Oder, etwas bodenständiger: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Die Wechselwirkungen und Prozesse stehen in einem gegenseitigen Funktionsgefüge; sie definieren sich funktionale Grenzen, innerhalb derer sich ihre Prozesse bewegen müssen. Diese Grenzen nun determinieren die einzelne Funktion nicht vollständig, legen sie nicht in jedem Detail fest. Eine konkrete Funktion kann immer auf unterschiedliche Weise erfüllt werden; wenn man heißen Kaffee bereitstellen soll, kann man diesen mit der Kaffee-Maschine machen, mit losem gemahlenem Kaffee oder mit Alukapseln, man kann ihn mit dem Filter aufbrühen, orientalisch mitkochen oder Neskaffee anrühren. Oder sonst irgendwie ein heißes, bitteres, schwarzes Getränk erzeugen. Hier kommt ein Freiheitselement in das System: die einzelnen Elemente eines Systems sind aus dem Systemdesign heraus nicht völlig deduzierbar, sie befinden sich in einem „Bereich wechselseitiger Unabhängigkeit“.[2]
Und hier wären wir nun bei unserem zweiten Paradigmenwechsel: Eine einzelne Komponente definiert niemals das System. Und das gilt auch für die Krone der Schöpfung, den Menschen. Der Förster beherrscht den Wald genauso wenig wie der Naturschützer den Magerrasen oder der Biobauer die Bergweide.
Das System wird vielmehr von etwas gelenkt, das erst aus dem System entsteht oder vielleicht auch das ist, was das System ausmacht, das Mehr des Ganzen gegenüber der Summe der Teile. Und dieses was auch immer muß nicht immer nur stabilisieren, durch negative Rückkoppelung das System in einem bestimmeten Zustand halten, Ausreißer einfangen, sondern kann sich auch verändern, entwickeln. Und das muß nichts Schlechtes bedeuten.
Wenn man sich diese Sichtweise verinnerlicht, so erscheinen einige große naturschutzfachliche Probleme der gar nicht mehr so groß. Ja, wir haben eine Menge Neophyten in unseren Ökosystemen – so what? Rahmenbedingungen ändern sich, neue Nischen entstehen, werden von neuen Playern bespielt – und? Die Biodiversität mag zurückgehen – aber war sie nicht zu bestimmten Zeiten auch ohne den Menschen geringer? Diese Sichtweise darf man selbstverständlich nicht mißverstehen, ein System kann auch zerstört werden oder sich aus bestimmten Blickwinkeln verschlechtern, wenn einzelne Komponenten verrückt spielen.
[1] Jantsch in Seifert, H., und Radnitzky, G. (Hrsg.); Handlexikon zur Wissenschaftstheorie; 1992, S 331
[2] Thiel in Seifert, S 86